Aktuel in der AG

Ad-Hoc-Pflicht: Knowledge statt Knowledge Governance (Koch, AG 2024, 97)

Vor fünf Jahren wurde in dieser Zeitschrift die Frage aufgeworfen, ob es sich bei der Pflicht zur Ad-Hoc-Publizität um eine Veröffentlichungs- oder um eine Wissensorganisationspflicht (in zeitgeistigerer Terminologie: Knowledge Governance) handelt. Seitdem hat sich die Diskussionslandschaft vollständig gewandelt: In zahlreichen Dissertationen wurden die zugrunde liegenden Problemstellungen aufgearbeitet und schließlich haben auch zwei instanzgerichtliche Entscheidungen diese Frage mit gänzlich unterschiedlichen Begründungsansätzen beantwortet. Vereinzelt ist sogar die (vor dem Hintergrund der intensiven Diskussion überraschende) Behauptung aufgestellt worden, die Debatte sei längst hinfällig, da der BGH die Fragestellung bereits im Jahr 2011 entschieden habe. Der folgende Beitrag unterzieht das Thema im Lichte dieser Entwicklungen einer neuerlichen Überprüfung und nimmt zugleich zu den jüngeren gerichtlichen und literarischen Äußerungen Stellung.

I. Einleitung
II. Meinungsstand

1. Meinungsstand bis 2019
2. Diskussionsstand seit 2019
a) Entwicklung
b) Andere Bewertung für Altfälle?
3. Erweiterung des Meinungsstands: IKB-Entscheidung des BGH?
4. Instanzgerichtliche Entscheidungen
a) OLG Braunschweig
b) OLG Stuttgart
III. Ausgangspunkt der juristischen Prüfung
IV. Wissenserfordernis in § 15 WpHG a.F./Art. 17 MMVO n.F.
1. Wenig Gesetz – viel Pflicht?
2. Vergleich mit gesellschaftsrechtlichen Informationspflichten
3. Begriffliche Stringenz und Alternativformulierungen
4. Neuordnung durch den EU Listing Act
5. Zusammenführung mit Diskussion über Reichweite der Wissenszurechnung
V. Wissenserfordernis und Wissenszurechnung
1. Grundlegende Überlegungen
2. Systematische Einbettung
a) Leerlaufen der Selbstbefreiung
b) Vereinbarkeit mit der Variante fahrlässiger Tatbegehung
c) Beschränkung des Insiderhandelsverbots
3. Teleologische Überlegungen
a) Das Feuergraben-Argument
b) Das Schreckgespenst-Argument
c) Wirkungskraft und effet utile
VI. Erweiterung des Pflichtenprogramms
1. Deliktsrechtliche Fortentwicklung
2. Deliktsrechtliche Ausdehnung nur in den Grenzen des aufsichtsrechtlichen Telos
3. Abweichende methodische Fundierung
VII. Fazit


I. Einleitung

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Die Diskussion um die Ad-Hoc-Publizität ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie intensivste wissenschaftliche Aufarbeitung dazu beitragen kann, dass am Ende niemand mehr irgendetwas begreift. Wer vor fünfzehn Jahren noch geglaubt hat, er habe das Rechtsinstitut der Ad-Hoc-Publizität einigermaßen verinnerlicht, war vielleicht schon durch den Daimler/Geltl-Fall leicht verunsichert, wird dann aber spätestens seit der gerichtlichen Auseinandersetzung um die Ad-Hoc-Pflichten der Volkswagen AG jedes Selbstbewusstseins beraubt worden sein. Selbst prominenteste Vertreter des Faches attestieren sich gegenseitige Inkompetenz. Lars Klöhn deklariert ein verbreitetes wissenschaftliches Gegenkonzept kurzerhand für „ganz und gar abwegig“ und „völlig inakzeptabel“. Dem Doyen des deutschen Kapitalmarktrechts, Heinz-Dieter Assmann, muten dagegen Klöhn’sche Argumentationsmuster als „hanebüchen“ an.

2
Bei so viel Stimmung in der Wissenschaftsbude ist es nicht überraschend, dass mancher Beobachter den Überblick verliert. Um wieder etwas Licht in die Argumentationslandschaft zu bringen, soll im Folgenden eine besonders zentrale Weichenstellung im Spektrum der Ad-Hoc-Publizität näher beleuchtet werden, nämlich die Frage, ob der Emittent von der Information, die er bekanntzugeben hat, überhaupt Kenntnis haben muss. Diese Frage ist für das Verständnis der Ad-Hoc-Publizität von überragender Bedeutung, weil sich hier der Kern dieser Pflicht entscheidet: Wird der Vorstand entsprechend dem Wortlaut der Vorschrift lediglich dazu verpflichtet, Informationen an den Kapitalmarkt weiterzugeben, oder ergibt sich aus der kapitalmarktrechtlichen Ad-Hoc-Pflicht (nicht aus flankierenden gesellschaftsrechtlichen Sorgfaltspflichten!) darüber hinaus auch die noch viel weitergehende Pflicht zu einer umfassenden Knowledge Governance, die gewährleisten soll, dass der Vorstand ständig über alle den Emittenten betreffenden kursrelevanten Vorgänge informiert ist? Das Wesen der Ad-Hoc-Pflicht, ihr konzeptionelles Grundverständnis, ihre tatbestandliche Reichweite und ihr Haftungspotential entscheiden sich an dieser speziellen Fragestellung.

3
Um sie aufzuschlüsseln, soll in einem ersten Schritt der schon an sich ausgesprochen wechselvolle Meinungsstand nachgezeichnet werden. Der Beitrag knüpft dabei an eine in dieser Zeitschrift erschienene Veröffentlichung aus dem Jahr 2019 an. Die dort erarbeiteten Erkenntnisse sollen nicht wiederholt, sondern allenfalls dort, wo es aus Gründen der Verständlichkeit und argumentativen Stringenz erforderlich ist, kurz zusammengefasst werden, um auf diesem Fundament in einem zweiten Schritt neuere Argumente zu würdigen.

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Der Ursprungsaufsatz 2019 bezog sich bereits auf die neue Rechtslage nach Art. 17 MMVO. Da die neue cause célèbre der Ad-Hoc-Publizität – Volkswagen – allerdings noch am Maßstab der alten Rechtslage von den Gerichten vermessen wird, soll auch die Einordnung dieser Urteile am Maßstab des alten Rechts erfolgen; die Übertragbarkeit auf das neue Recht wird aber selbstverständlich durchgängig mit einem Seitenblick gewürdigt.

II. Meinungsstand

1. Meinungsstand bis 2019

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Gerade was den Meinungsstand vor 2019 angeht, soll der zusammenfassende Verweis auf die frühere Veröffentlichung genügen: Mitte der 2010er Jahre gab es – damals wie heute – zwei ähnlich große Meinungsgruppen, die ein Kenntniserfordernis entweder bejahen oder verneinen. Von denjenigen, die es bejahen, haben in der Vergangenheit zur dann erforderlichen Ausfüllung des Kenntniserfordernisses viele Vertreter der Wissenschaft die Regeln nationaler Wissenszurechnung nach vertragsrechtlichen Grundsätzen herangezogen, wie sie der BGH für das deutsche Kaufrecht entwickelt hat. Vor diesem Hintergrund erklärt es sich, dass die Wissenszurechnung seinerzeit zum großen Modethema der zweiten Hälfte der 2010er Jahre avancierte.

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Zwei Autoren haben damals – mit allerdings genau entgegengesetzter Stoßrichtung – darauf hingewiesen, dass sich der Meinungsstand in eine falsche Richtung entwickele, nämlich Lars Klöhn und der Verfasser. Klöhn sah die entscheidende Fehlentwicklung darin, dass § 15 WpHG a.F. bzw. Art. 17 MMVO gar keine Wissensnorm sei und es daher keiner Wissenszurechnung bedürfe. Die Ad-Hoc-Publizität erschöpfe sich nicht in einer Bekanntgabepflicht, sondern habe auch eine Compliance-Dimension, die zur vorgeschalteten Informationsbeschaffung verpflichte. Die Positionierung des Verfassers erfolgte unter dem genau umgekehrten Vorzeichen, dass § 15 WpHG a.F. bzw. Art. 17 MMVO zwar eine Wissensnorm sei, aber Wissen im Rahmen einer Vorschrift des europäischen Aufsichtsrechts nicht nach Regeln des nationalen Vertragsrechts zugerechnet werden dürfe und deshalb eine spezifisch normzweckbezogene Zurechnung erforderlich sei.

2. Diskussionsstand seit 2019

a) Entwicklung

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Im Gefolge dieser Debatte hat der Diskussionsverlauf eine neue Wendung genommen. Insbesondere der Weg über die Zurechnungsregeln nach nationalem Kaufrecht wird heute ganz überwiegend als Irrweg identifiziert: Im Anschluss an die seinerzeitige Diskussion sind zahlreiche Stellungnahmen erschienen, von denen sich einige...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 26.02.2024 18:19
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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